Kleine Enzyklopädie der Himmel
Keller + Kuhn
 
 
 

Maag goss sich ein Glas ein, rückte den Stuhl ans Fenster, warf die Füsse auf das Sims

und begann zu schauen. Er sah die Flachdächer, die Kamine, die Satellitenschüsseln, die

Wassertanks, die Liftschächte. Als er die Liegestühle in den Dachgärten entdeckte und

sich nicht ganz sicher war, ob es wirklich solche waren, verliess er, zum ersten Mal an

diesem Tag, seine Wohnung, um sich einen Feldstecher zu kaufen. Sogleich rückten die

Bäume näher, Äste wuchsen aus den Strassenschluchten, Büsche wucherten auf

Dachterrassen, Rostflecken zeigten sich auf Abflussrohren, Drähte krochen über den

Verputz. Die Liegestühle, das sah er jetzt ganz deutlich, wurden weggetragen, und eine

ganze Stunde lang beschäftigte ihn ein blaugetupftes Badetuch, bis es endlich vermisst

und eingesammelt wurde. Schiffe trieben flussabwärts, Flugzeuge durchstachen den

Horizont. Regen, Wolken, Sonne, Mond, Blau in allen Schattierungen.

 

Jedesmal, wenn er aufschaute, sah er einen anderen Himmel. Wie Schlagsahne eine

Hochzeitstorte dekorierten Wolken das Blau, kräftig stiegen gegen Abend am Horizont (wo

sich die Ölraffinierien befanden) die Farben hoch, bis sie von den Lichtern der Nacht

aufgesogen wurden, und am Morgen blies der Wind den Regen vor sich her oder der Mond

stand, wie heute, noch für eine Weile im Blau derfrühen Stunde.


Himmel. Es waren Himmel in der Mehrzahl! Früher hatte er gedacht, es gebe nur einen

Himmel, doch jetzt—wieviel Zeit war vergangen, seit er den Stuhl ans Fenster gerückt

hatte?— wusste er, dass es unendlich viele gab. Es gab einen Himmel für jede kleinste

Zeiteinheit, die noch gar nicht beschrieben war, die nur so, mit „Himmel” beschrieben

werden konnte. 1 H, das war die kleinste Zeiteinheit, und er, Maag, ihr Entdecker (aus

Bescheidenheit nannte er die von ihm beschriebene Zeiteinheit nicht 1 M.). Doch gab es

diese Zeiteinheit (und das war das Essentielle der „Maagschen Gleichung”) wie eben auch

diesen einen Himmel in der Einzahl nur unter einer Voraussetzung: dass einer schaute.

 

Nach 756 H rief er seine derzeitige Freundin an, die drauf und dran war, bei ihm

einzuziehen, um ihr mitzuteilen, dass sich im Westen ein Sonnenuntergang wie eine

Feuersbrunst ausbreite. Nach 11703 H liess er im Büro ausrichten, mit seinen Diensten sei

aufgrund verschiedener Unpässlichkeiten in den nächsten Tagen, wenn nicht sogar

Wochen, nicht zu rechnen. Nach 916372 H verschob er ohne Grundangabe einen schon

lange gebuchten Therapietermin. Nach 430915566 H rief er erneut seine Freundin an und

sagte ihr, es sei vielleicht vorerst besser, wenn sie doch noch nicht einziehe, zumal noch

nicht einmal er selbst den Überblick habe. Als er sich nach 354482127950531 H dabei

ertappte, dass er eben Minettis Nummer auf dem Display seines Handys abgerufen hatte

und gerade noch knapp, bevor dieser den Anruf entgegennahm (er hörte mental bereits

dessen Schnaufen), die Verbindung zu unterbrechen vermochte, warf Maag das Gerät aus

dem Fenster und hörte mit Genugtuung, wie es im Flug zu klingeln begann. Er legte die

Füsse auf den Fenstersims zurück, stellte den Fernstecher auf die gewünschte Schärfe ein

und nahm sich vor, einen bequemeren Stuhl zu kaufen, sobald er dazu kam, die Wohnung

zu verlassen.